Bernd Kleber

Sie saß dort und erzählte von ihrem Leben, von ihren neu entdeckten Falten im Gesicht. Außerdem hatte sie diese Woche 200g zu viel auf der Waage. Sie hatte ein graues Haar aufgespürt. Zitternd griff sie wieder zu den Taschentüchern und schnaubte weinend in eines hinein. Sie sprach von Schönheitskorrekturen und Unterspritzungen und ich wurde müde, meine Gedanken schweiften in den Sommer 1994 ab. In die heiße Jahreszeit, in der ich Wajheeha kennen lernte. Das sportlichste Mädchen unserer Schule. Das verrückteste, das stärkste und das schönste. Sie wiederholte die Klassenstufe, war neu zu uns gekommen. Und sie saß neben mir.

***

Die Sonne brannte, es war ja erst Mai und doch so heiß. Ich saß im Schatten der Bäume neben dem Schulgarten und döste vor mich hin. Sogar die Katze unseres Nachbarn hinterließ beim Überqueren der Straße eine Staubspur. Kleine Wölkchen stiegen hinter ihr auf, dass ich zweimal schaute, nicht zu irren, was dort zu sehen war. Ein Lächelgesicht im Dauermodus, weil das Leben mich streichelte, sanft und warm. Ich hatte einen neuen Schutzgeist in der Klasse, Wajheeha, sie war meine beste Freundin.

Immer wenn ich frech zu den Älteren war oder Stress mit Umar, dem Chef der Schul-Gang hatte, sprang sie mir zur Seite. Das Mädchen hielt die kräftigen Jungen am Kragen, schüttelte sie und fragte, ob sie ihre Taekwondo-Kenntnisse kennen lernen wollten. Ihre Metallarmbänder klirrten dann am Arm wie eine drohende Klapper-Schlange und die Jungs hatten Respekt, ließen von mir ab und murmelten verächtliche Worte.

Jia, wie sie genannt wurde, rief in diesem Fall: „Komm Adil wir gehen Laufen! Vielleicht schaffst Du es ja mal, mich zu überholen… los!“
Und dann rannte sie schon los. Ihre Haare, lang und braun, flatterten im Wind. Meine Wangen glühten, wenn ich ihr nacheilte. Mir war nicht klar, was das ist, dieses Gefühl im Unterbauch, das diese eigentümliche Unruhe bewirkte.

Manchmal kletterten wir über Zäune, sprangen in den kleinen Bachlauf und bespritzten uns mit seinem kühlen Nass.

Wenn wir uns trafen, zeigte sie mir mitunter Griffe aus ihrem Kampfsport und schleuderte mich lachend auf den Rücken. Sie stemmte dann ihr Knie gegen mein Kinn. Vor mir ihre braunen Augen, hinter ihrem Körper malte die Sonne eine Korona. Sie wirkte überirdisch. Ihre Haare hingen herab, berührten und kitzelten mein Gesicht.
Wenn ich „Jia“ rief, ließ sie von mir ab und gab mich frei.

Ich hatte beobachtet, wie Jungen aus den höheren Klassenstufen um sie warben oder ihr Worte nachriefen, die nicht wohl erzogen klangen. Ich hatte gesehen, wie sie um sie herumschlichen. Manche brachten ihr Schokoriegel mit, andere fragten, ob sie gemeinsam Radrennen fahren könnten. Jia kicherte immer nur und sagte, das seien alles „Kaminae“ (Schurken) und ich wurde rot. Dann lachte sie, puffte mir in die Seite und strahlte Glück, das mich wärmte wie die Sonne hier auf der Straße.

Ihre Stimme war zu hören: „Adil, hallo Kleiner, was machst du hier?“

Ich war der Kleinste in der Klasse und unsere Lehrer behaupteten, so klein wie ich war, so frech wäre ich auch. Was mich ja auch immer wieder in brenzlige Situationen mit den Älteren gebracht hatte. Aber seit Jia in meinem Leben war, gab es keine Sorgen mehr.

„Ich sitze hier rum und beobachte die Hitze!“
„Die Hitze?“, „Das geht doch gar nicht!“
„Doch, komm her, setz´ dich zu mir und sieh auf die Straße. Guck dort wo Mira läuft“, so hieß die Nachbarskatze, „Sieh den Staub und sieh das Flirren der Luft, die Katze vibriert wie ein Phantom… kennst du Fata Morganas?“
„Ja, die gibt es doch aber nur in der Wüste! Adil, ich habe etwas viel Schöneres als diese Katze“.
„Ja? Was denn?“
„Ich habe Kaninchen… zwei, sie sind weich und zart.“
„Wollt ihr sie schlachten?“
„Nein, geschlachtet wird später, noch sind sie zu klein…“, sie kichert, „Aber ich zeige sie dir gerne. Vorher musst Du mir nur von da drüben Tamarinde und Zitronen holen.“ „Was? Ich denke, die Tierchen werden noch nicht geschlachtet?“
„Ja, das stimmt, aber ich brauche vorher schon etwas Saures, ich erkläre Dir alles.“

Ich schaute über den Zaun in den Schulgarten. Es war streng verboten, dort einzubrechen. Und was, wenn sie mich erwischten?

„Mensch, Adil, sei kein Frosch, hol mir Tamarinde und Zitronen, ich stehe hier Schmiere und bewache Dich.“

Ich weiß heute nicht mehr genau, was in mir vorging, als ich wirklich über den Zaun kletterte. Mein Vater würde mich grün und blau schlagen, wenn das rauskäme. Aber schon unterwegs, waren alle Tadel und Drohungen vergessen.

Die Zitronen von den niedrigen kleinen Bäumchen waren leicht zu pflücken. Sie dufteten frisch und säuerlich. Ich steckte einige in die Hosentasche.
Doch der Tamarindebaum stand daneben groß und mächtig wie Fort Baltit, das wir einmal besucht hatten. Dreißig Meter wuchs er bestimmt in die Höhe. Sein Stamm hatte mindestens eine Manneslänge im Durchmesser. Ich spuckte in meine Hände. Das Herz klopfte. Dann sah ich zu Jia hinüber, die mit unschuldigem Blick auf und ab flanierte und mit den Händen wedelte, ich solle endlich klettern. Die Sneakers suchten in der kluftig rissigen Rinde Halt. Und ich startete den Aufstieg. Kurz dachte ich an meine neue Hose, die ich trug. Würde ich sie zerreißen, gäbe es ebenfalls Schläge.

Nach ein paar Zügen, wie in einer Boulderwand, hatte ich den ersten dicken Ast erreicht und hangelte mich an ihm entlang, um an die bauchigen Hülsenfrüchte zu gelangen. Alles lief wie geplant und ich pflückte einige dicke Schoten, um dann vorsichtig mit meiner Beute in den Taschen und klopfenden Herzens wieder hinab zu steigen.

Festen Boden unter den Füßen, lief ich geduckt zum Zaun, schwang mich hinüber und stand wieder neben Jia. Die kniff mir in die Wange und sagte: „Mein Zatka (sehr großer Liebling), mein Adil, mein Held!“, und lachte. Ihre dunklen Augen glühten. Wir liefen eilig davon.

In ihrem Elternhaus angekommen, setzten wir uns auf die Dachterrasse, niemand war bei ihr daheim. Dicht saßen wir nebeneinander, die Füße angewinkelt und keuchten vom Laufen. Ich legte wie eine Opfergabe Zitronen und Tamarinde-Schoten vor ihr auf den Boden und fragte: „Was machst Du damit jetzt und wo sind die Kaninchen?“

Sie nahm meine Hände und legte sie auf ihre zarten Brüste. „Knete sie und sage mir, ob Du sie fühlst, die Kaninchen!“ Ich erschrak und zog die Hände zurück. Wir sahen uns fest in die Augen. Sie zog energisch beide Hände wieder an ihre Brust und sagte: „Knete die kleinen Kaninchen heftiger, sie lieben es! Spürst Du sie?“
Ich lachte und in mir stieg eine vulkanige Hitze auf. Mein Gesicht glühte, als hätte ich auf jede Wange eine Backpfeife bekommen. Das Herz hatte die Absicht, mir aus dem Mund zu springen, den ich breit grinsend fest verschlossen hielt. Man konnte ja nie wissen.

Dann sagte ich: „Nein! Es sind kleine Ferkelchen.“ Und wir lachten beide laut. Jia erzählte mir, sie solle Saures essen, hatte ihre Großmutter gemeint. Nur so würde sie einen großen Busen bekommen. Noch seien es aber winzige Kaninchen. Außerdem sei ich dumm.

Daraufhin küsste sie meinen Mund. Mir war in dem Augenblick, als würde das Haus mit uns ins All katapultiert werden und das unbestimmte Gefühl im Unterbauch wurde ein sehr konkretes Empfinden. Ich sagte nichts, versuchte, mich einfach nicht zu bewegen. Eine Eruption hätte sich sonst ergossen. Dieser Tag war einer der schönsten meines Lebens.

***

Die Patientin jammerte immer noch. Ich schlug ihr endlich vor, ein Paar richtig gute Brustimplantate einzusetzen, ihr Busen würde dem einer 30-jährigen gleichen, so groß und fest wie zwei kleine Ferkel. Die Kundin lachte und sah glücklich aus. Der Spruch wirkt eben immer im Verkaufsgespräch. Während sie die beiden massigen Implantate knetete, wie ich damals die Kaninchen, strahlte sie mit leuchtenden Augen. Ich blickte das Foto auf meinem Schreibtisch an und lächelte ebenfalls, denn unsere Tochter Pinki sah aus, wie ihre Mutter in diesem Alter, die wilde schöne Jia …

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